Verschollen im Bärencluster

 

VERSCHOLLEN IM BÄRENCLUSTER erschien erstmals im MAT #3 (2008)

 

 

Verschollen im Bären-Cluster

I

Grisselige Bilder von Flagellanten unter einer purpurnen Sonne. Die Außenkameras zeigten Jones die Nasty Rumours; ein drei Kilometer langer Tropfen mit grellen Lichtpunkten im Eispanzer. Er befahl der Kamera, ihr Objektiv nun auf den Ort des Geschehens zu richten. Erst erkannte er überhaupt nichts in der Schwärze des interstellaren Mediums, dann zeigte der Computer ihm den Bereich mit farbigen Markierungen. Dort würde gleich ein Wurmloch entstehen. Mit dieser Technologie sollten die jahrelangen Reisezeiten auf ein Minimum reduziert werden. Doch hatte die Konzentration der Ressourcen auf dieses Ziel seinen Preis. Vor zwei Jahren hatte das Schiff die Fähigkeit zur Selbstheilung verloren. Seitdem waren Jones und seine Leute vom Wartungsteam im Dauereinsatz. Immer auf der Suche nach defekten Leitungen, Brüchen, Lecks. Bei den zweiwöchentlich stattfindenden Sitzungen des Schiffsrates hatte Jones mehrfach Protest eingelegt, aber die Forschungsoffiziere waren in der Mehrheit und die Unterstützung Kapitän Inabitos hatten sie auch.

„Noch fünf Minuten“, gab Professor Schindzilorz mit sanfter Stimme durch.

Die Minuten verstrichen. An Bord schienen alle die Luft anzuhalten vor dem großen Sprung. „Eine Minute“, raunte Schindzilorz. Als diese abgelaufen war, zuckte an der markierten Stelle ein Lichtblitz, der eine Schockwelle auslöste, die das Raumschiff kurz und heftig durchschüttelte. Alarmsirenen ertönten. Jones war sauer. Die Kommunikation war abgestellt. Außer den direkt am Wurmloch Beteiligten konnte keiner an Bord mithören, geschweige eingreifen. Die Kanäle waren geschlossen.

Jones starrte auf den Monitor. „Ausschnitt vergrößern“, befahl er.

Ein Glühen war zu sehen, das Raumzeitkontinuum brodelte. Jones beugte sich in seinem Stuhl nach vorne und fiel fast herunter, als ein erneuter Blitz eine erneute Schockwelle verursachte. „Zum Teufel!“, fluchte er. Nasty Rumours Hülle bebte und kreischte wie tausend Dämonen. Für einen Moment sah Jones mitten im Raum sein Spiegelbild. Jetzt teile ich mich, dachte er, die Raumzeit zerbricht. Er ignorierte seinen Doppelgänger, wie der ihn, stattdessen betrachtete er den Strudel auf dem Monitor, der immer größer wurde und dessen äußerer Rand schließlich das Raumschiff erfasste.

Die Lichter gingen aus. Das Bild war weg. „Hallo? Bist du noch da?“, fragte Jones die Dunkelheit. Keine Antwort. Das Licht ging wieder an. Er befand sich allein im Raum. Zwischen Erleichterung und Unruhe stürmte er an die Tür und sah in beide Richtungen des Gangs. Sein Doppelgänger war verschwunden. Drei Türen weiter stand Semler und sah Jones misstrauisch an.

„Hast was gesehen, Sem?“, fragte Jones.

Semler schüttelte den Kopf und knallte die Tür zu. Was ist denn mit dem los, dachte Jones. Aber er hatte jetzt keine Zeit, sich um seinen Freund zu kümmern. Er ließ seine Tür offen, und rief die Pilotenkanzel. Nichts. Er rief die Forschungsstation. Stille. Wahrscheinlich waren diese Kanäle immer noch für ihn gesperrt. Er verließ sein Quartier und lief rasch zum Aufzug. Das Experiment hätte weiter vom Schiff entfernt durchgeführt werden müssen. Diesmal würde er eine ordentliche Beschwerde einreichen, beim Vorstand, nicht nur an Bord.

Der Korb kam gerade herunter, als eine zweite Explosion das Schiff durchschüttelte. Jones hatte mit verschränkten Armen an der Metallwand gelehnt und nahm das Ereignis mit einem Kopfschütteln zur Kenntnis. Die Beleuchtung flackerte. Plötzlich schien alles um ihn herum zu schrumpfen. Kabel rissen und sausten wie Peitschen durch die Luft. Der Fahrstuhl raste vorbei und knallte dreißig Meter tiefer auf den Grund.

Jones lag auf dem Boden neben der fluoreszierenden Markierung für die Transportdrohnen. Er öffnete ein Auge. Lichter flackerten, einige waren ganz ausgefallen. Jones übergab sich. Keuchend hockte er da; auf die Hände gestützt, betrachtete er das Erbrochene. Rotz lief ihm aus Nase und Mund und vermischte sich mit Tränen, die auch nach Erbrochenem stanken. Jones hörte einen lang anhaltenden Schrei, dann ein echohaftes Wimmern, das abrupt abbrach.

Er stand auf, versuchte den Fahrstuhl zu rufen, doch der war nicht mehr zu gebrauchen. Er sah den Schacht hinauf. Lose Kabel schlugen Funken. Er dachte, er hätte Stimmen von oben gehört.

„HALLO!“, brüllte er. Doch es kam keine Antwort und das Echo erstarb. Jones versuchte kühlen Kopf zu bewahren und überlegte. In der Nähe gab es eine Stiege, die zur Gärtnerei führte. Dort gab es auch einen Fahrstuhl.

Er fand den Fahrstuhl intakt und kam immerhin bis in die Küche, die zwei Etagen unterhalb der Kanzlei lag. Die Stille im Saal ging ihm durch Mark und Bein. Aus den Schränken gerollte Töpfe und über den Boden verteiltes Geschirr blitzten. Sorgfältig vermied Jones jede Berührung.

Im Treppenhaus schlummerte ein Wesen, wie Jones es nie zuvor gesehen hatte. Es saß zusammengesunken da und schnarchte. Es sah friedlich aus, trotz der bleichen, mit Schorf überzogenen Haut, dem mit rasiermesserscharfen Zähnen gespickten Maul. Die Spezies hatte vermutlich vier Arme. Diesem Exemplar hier fehlte einer völlig, von einem anderen war nur der Stumpen übrig. Ein Ruf ertönte, das Jones an das Keckern von Hyänen erinnerte. Jones sah sich um, da war aber glücklicherweise kein anderes Monster. Das im Treppenhaus öffnete die Augen, schüttelte sich und gab einen Grunzer von sich. Es bekam Antwort, sprang die Treppe hinauf. Jones wich in die Küche zurück, wo er sich mit einem Messer bewaffnete und vorsichtig weiter ging.

Auf dem letzten Absatz vor der Kanzlei konnte er sich in letzter Sekunde hinter einem Lidschott im Gang zum Aufenthaltsraum verstecken. Die Wesen rannten an ihm vorbei, große, zappelnde Säcke schleppend, auf einen konzentrisch pulsierenden Lichtkreis zu, ein Schirm, hinter dem sie verschwanden. Der Lichtkreis schloss sich. Jones hechtete ins Treppenhaus zurück und erreichte die Kanzlei. Die Geräte waren unangetastet geblieben. Die Wesen interessierten sich nicht für ihre Technik, so viel war klar. Keine Lebenszeichen von anderen Besatzungsmitgliedern. Er betrachtete die Displays der Außenkameras und sah deren Schiff. Ein aus Schrott und Fleisch bestehender Brocken. Jones vernahm ein Surren, das bedrohlich anschwoll. Der Boden unter seinen Füßen wackelte. Er hörte das Zischen des Lidschotts auf der Halbetage. Auf dem Monitor sah Jones, wie das Schiff sich von der Nasty Rumours gelöst hatte und von einem unsichtbaren Antrieb in die Schwärze bugsiert wurde. Schnell ging er alle verfügbaren Kameras durch, um zu sehen, ob noch jemand auf der Nasty Rumours war. Er entdeckte Callie, die sich wie er unten im Gang versteckt haben musste und vom Weltraum erwischt worden war als das fremde Schiff abdockte. Jones schaltete weg, während sie durch das Bild trieb. Der Gedanke, ihr vor wenigen Momenten in dem Gang nahe gewesen zu sein, erschütterte ihn.

Über Funk rief er die übrigen siebzehn Besatzungsmitglieder. Niemand antwortete. Vielleicht ist das Portal ja noch offen, dachte er. Er kletterte in die Pilotengondel. Die Apparaturen sahen viel einfacher aus als die komplexen Computeranlagen der Forscher. Es handelte sich hier um erprobte, zuverlässige Technik von vor zweihundert Jahren. Vor sich sah er das geöffnete Wurmloch, ein pulsierender Materiestrudel von einem Kilometer Durchmesser. Der Langstreckenscan leuchtete wie wild. Mindestens ein Dutzend Raumschiffe hatte ihr Erscheinen angezogen. Wie setze ich bloß dieses Ding in Gang, dachte Jones fieberhaft. Er hatte Ahnung von kleinen Transportmaschinen, über die Steuerung eines Kolonistenliners wusste er nichts.

Jones klatschte in die Hand, erbat Beistand von einem guten Geist in der Nähe und übernahm die manuelle Kontrolle.

Einfach drauflos, was anderes bleibt mir ja gar nicht übrig.

Man merkte bei Großschiffen nicht, wenn man sich bewegte. Jones hatte schon hundert Kilometer zurückgelegt, bevor er es registrierte. Das Wurmloch war nicht mehr da. Er hatte doch genau darauf zugesteuert; ja, er hatte darauf gestarrt und Nasty Rumours war ihm gefolgt. Aber das Portal war geschlossen. Jones rieb sich die Augen. „Wie lange dauert es noch, bis das erste der Schiffe hier ankommt?“, fragte er den Computer. Aber der antwortete ihm nicht. Jones rutschte die Stange hinunter in die Kanzlei, ging an seinen Platz im hinteren Teil. Auf dem Weg durch das Schiff zeigte ihm der Monitor jede Menge schwarzer Bereiche. Er beorderte Reparaturdrohnen an die Stellen, doch würde es Tage dauern, bis das gesamte Schiff wieder Online wäre; auch schickte er Sucher aus, die nach anderen Überlebenden Ausschau halten sollten.

 

Einige Stunden später schlurfte Jones mit hängenden Schultern durch die Gänge des Oberdecks. Er hatte einen der Waffenschränke geöffnet und Bolzenwerfer an taktischen Punkten in der Umgebung der Kanzlei aufgestellt. In der linken Hand hielt er ein Display, auf dem er die Fortschritte der Reparaturen verfolgen konnte. Er spazierte gerade in einen Nebengang hinein, als die Beleuchtung ausfiel. Das Fehlen des vertrauten Surrens und die Finsternis brachten Jones an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Er rutschte die Wand hinunter und schnappte nach Luft, die matt über den dicken, blau fluoreszierenden Teppichen lag. Er befahl den nächstgelegenen Drohnen, sofort die Beleuchtung wiederherzustellen und die Versorgung der gesicherten Bereiche zu garantieren, bevor man in einen neuen vordrang. Unter den Maschinen schien es zwei Meinungen über das Vorgehen zu geben, und bisher hatten diejenigen die Oberhand, die eine schnelle Instandsetzung sämtlicher Bereiche vorantrieben. Jones stärkte mit seinem Befehl die konservativen Kräfte, beorderte für die nächste Zeit auch die Sucher zurück, die bisher erfolglos geblieben waren und teilte sie den Reparatureinheiten zu. Er sah auf seine Uhr, stellte fest, dass sieben Stunden vergangen waren, seitdem die Wesen fort waren. Jones war müde. Er beschloss, in die Kanzlei zu gehen. Als er ankam, prüfte er zunächst den Zustand der defekten Systeme. Er verlegte seinen Terminal in den Aufenthaltsraum.

Eine Drohne schwebte an der Decke des Korridors, die einzige Lichtquelle. Sie begleitete Jones auf seinem Weg zum Aufenthaltsraum. „Wo ist Callie?“, fragte er die Drohne. Die stieg ein Stück zu ihm hinunter und bedeutete, ihr zu folgen. Die Wissenschaftlerin lag an der T-Kreuzung, dort wo das Schiff der außerirdischen Wesen angedockt hatte. Reparaturdrohnen hatten das Loch mit einem Provisorium aus Kunststoff und Metallteilen geflickt. Irgendwo am Ende des Korridors hörte Jones das Bitzeln und Zischen eines Schweißgerätes. Er beugte sich zu Callie runter, verschloss ihre weltalltrüben Augen. Die Drohne tauchte seine Trauerarbeit in fahles Licht. Er kannte keine Gebete, weder für die Lebenden noch die Toten. Er hatte keine Bindungen. Alle Verwandten die er persönlich gekannt hätte, waren lange verstorben. Ein paar Jahre im Weltraum bedeuteten aufgrund der Relativität das Vergehen dutzender Jahre auf Terra.

Jones ging an die Bar, goss sich einen großen Cognac ein und stürzte den in einem Zug hinunter. Anschließend ließ er sich in einen Sessel in der vorderen Reihe fallen, und schlief ein.

Als Jones erwachte, bat er den Computer, ihn bezüglich der Reparaturen auf den neuesten Stand zu bringen. Schweigen, Schweigen, Schweigen. Überall schienen die Reparatureinheiten Pausen eingelegt zu haben. Jones schimpfte mit ihnen, doch sie reagierten nicht. Weshalb sie schwiegen, erfuhr er, als er eines Raumschiffes gewahr wurde, so groß, dass es den gesamten Bildschirm ausfüllte. Auf dem Display las er: Gefahr im Verzug. Toter Mann!

Jones sah auf den Monitor. Das Raumschiff zog langsam vorüber. Es war mit bloßem Auge nur sichtbar, weil es das Sternenlicht ausschloss.

 

Fortsetzung